ENDE

Die Entdeckungsreise als analoge Methode der Strategieentwicklung

Dr. Sabine Schmid

Hintergrund und Kontext

„Die Zukunft vorhersehen heißt nichts anderes als:

Die Zukunft gestalten.“

Peter F. Ducker (1909 – 2005)

Strategie wird im Folgenden als Versuch verstanden, die unvorhersehbare Zukunft durch die Setzung langfristiger Ziele und die Beschreibung eines Weges zur Erreichung dieser Ziele planbar zu machen. Sie beschreibt das „Was“ ebenso wie das „Wie“ in einem schlüssigen Gesamtkonzept, welches entsprechend der Ungewissheit und Unsicherheit der offenen Zukunft nicht einmalig entworfen, sondern unter Berücksichtigung der sich wandelnden internen und externen Faktoren permanent herausgebildet, entwickelt und verändert werden muss. Dementsprechend müssen in einem sorgfältigen Strategieentwicklungsprozess der Blick auf das Umfeld und der Blick auf die eigene Organisation zusammengebracht werden. Laut dem Strategiekonzept von Henry Mintzberg gilt es hierbei sieben Blickrichtungen einzunehmen: 1. den Blick zurück auf die vergangene Strategie; 2. den Blick von unten auf die eigenen Stärken und Schwächen; 3. den Blick von oben auf die Systemumwelt; 4. den Blick zur Seite auf die Konkurrenten; 5. den Blick nach vorne in die Zukunft, 6. den Blick darüber hinaus auf langfristige Entwicklungen und schließlich 7. den Blick zum Ende auf die Umsetzung und das Nachhalten (vgl. ZOE Online, 2007)[1]. Zur Einnahme dieser Blickrichtungen gibt es eine Vielzahl von klassischen Instrumenten der Stratgieentwicklung, wie SWOT, PEST/STEP/STEEP, Szenariotechniken, Stakeholdermatrizen, Kraftfeldanalyse, verschiedene Portfolio-Matrizen (u.a. BCG-Box, Multifactor-Portfoliomatrix, Risk/Return-Matrix) oder die Balanced Scorecard. All diesen Instrumenten gemein ist, dass sie den Schwerpunkt auf die Technik der Strategieentwicklung, im Sinne der rationalen Analyse, Bewertung und Modellierung, legen und wenig Raum für die Kunst der Strategieentwicklung lassen. An Stelle Inspiration, Kreativität und Intuition freizusetzen, werden Matrizen unterschiedlichster Art gewissenhaft und gründlich ausgearbeitet. Die Beteiligten nehmen den Prozess aus einer Metaposition wahr und spüren keine innere Betroffenheit. Anstatt des großen Wurfs endet der Prozess nicht selten damit, dass die anvisierte neue Strategie letztendlich nicht mehr ist, als die Fortschreibung des Status quo oder die entwickelte Strategie nicht umgesetzt wird. So erstaunt es nicht, dass Führungskräfte und externe Berater:innen den konventionellen Strategieentwicklungsprozess häufig als schwerfällig und energiezerrend erleben und zunehmend nach alternativen Methoden der Strategieentwicklung suchen.

[1] ZOE Online (2007): Mintzberg: Strategie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung, Ausgabe 04/ 2007, http://www.zoe-online.org/einblick-2007-04-mintzbergs-strategie-konzeption.html

Darstellung der Methode

„Entdeckungen lieben Entdecker, die sich beim Entdecken entdecken.“

Manfred Hinrich (1926 – 2015)

Abbildung 1: Landkarte für die Entdeckungsreise

Die Entdeckungsreise ist eine ressourcenorientierte experimentelle Methode der geführten Imagination und stellt eine Form der strategischen Visualisierung dar. Sie verbindet die aus dem Coaching bekannte Metapher-basierte Visionslandkarte mit Mintzbergs Strategiekonzept der sieben Blickrichtungen. Mit Hilfe der Landkarte einer imaginären Welt auf der Kontinente, Inseln, Orte, Seen, Flüsse und Bauwerke eingezeichnet sind, die entlang einer vorgegebenen Route zu explorieren sind, wird der Strategieentwicklungsprozess strukturiert und spielerisch erlebbar gemacht. Um die Einnahme neuer Blickwinkel zu unterstützen werden nicht nur imaginär, sondern auch real unterschiedlich Orte bzw. Räume aufgesucht und veränderte äußere Gegebenheiten für die Stimulanz innerer Bilder genutzt.

Die Beteiligten werden in die Situation versetzt ein Explorationsteam zu sein, das auf eine Entdeckungsreise in eine Welt aufbricht, die nur 2 Kontinente kennt. Den Kontinent der Gegenwart und den der Zukunft. Die beiden Kontinente sind durch Düsterland voneinander getrennt und von einem blauen unbegrenzten Ozean mit karibischen Inseln umgeben. Das Explorationsteam startet seine Entdeckungsreise auf dem Kontinent der Gegenwart. Hier besichtigen sie ein vollständig erschlossenes Terrain. Sie bereisen als erstes Historycity und blicken dort zurück auf die vergangene Strategie. Von dort aus geht es weiter auf einer verwilderten, huckeligen Piste Richtung Düsterwald zur Grenzstadt Burgfurt a.d. Grenze. Der Ort ist von einem hohen, alten Turm geprägt, der den Pionier:innen ermöglicht auf sichere Distanz Piratevalley, den Unterschlupf der Wettbewerber:innen, auszukundschaften. Über einen kleinen Pfad führt die Reise weiter ins wunderschöne, zum Verweilen einladende Stärkenhausen, mit dem dort angrenzenden See der gewonnenen Kund:innen. Die Reisenden finden hier die Stärken, die sie selbst, ihr Team und ihre Organisation aufgebaut haben und begegnen langjährigen und neuen Kund:innen. So nah am Geheimnis des Erfolgs machen sie sich voller Tatendrang auf den Weg zum Fluss der guten Praktiken und lassen ihren Gedanken bei einer Schiffsfahrt freien Lauf. Gestärkt von der Fahrt auf dem Fluss setzen sie ihre Reise fort und nehmen die Schnellstraße nach Süden. Sie gelangen in das trostlose Tal der Schwächen. Sie nehmen all ihren Mut zusammen und finden dort ihre eigenen Schwächen, die ihres Teams und die ihrer Organisation. Auf den Gräbern, des an das Tal der Schwächen angrenzenden Friedhofs der verlorengegangenen Kund:innen, lesen sie die Namen der Kund:innen, die sie nicht gewinnen konnten oder die sie nicht halten konnten. Vom Tal der Schwächen setzt das Explorationsteam seine Reise Richtung Südwesten fort und gelangt über eine Serpentine zur Hafenstadt Weitblick. Dort besuchen sie den höchsten Leuchtturm der Welt und genießen den eindrucksvollen Blick von oben auf den blauen unbegrenzten Ozean und die sie umgebenden Chancen und Risiken. Sie sehen Inseln und die schemenhaften Umrisse des im Osten liegenden noch unbekannten Kontinents Zukunft. Vom Entdeckergeist gepackt machen sich die Pionier:innen auf Richtung Kontinent der Zukunft. Sie nehmen von der Hafenstadt Weitblick ein Boot zur Insel der Erkenntnisse und bereiten ihre Reise in die ihnen noch unbekannte Welt sorgfältig vor. Erkenntnisse von der Reise über den Kontinent der Gegenwart werden ausgewertet und Schlussfolgerungen für die Exploration des Kontinents Zukunft gezogen. Nach einer längeren Erholungspause setzen sie mit kleinen Schnellbooten zur Insel der Werte über. Dort finden sie all jene Werte die ihnen bei der Besiedlung des neuen Kontinents am wertvollsten sind. Mit diesen Werten im Gepäck paddeln die mutigen Pionier:innen in Ruderbooten zum Kontinent der Zukunft. An Land angekommen explorieren sie zu Fuß die unerschlossene Landschaft. Sie kommen an einen besonderen Ort, der zum Verweilen und Träumen einlädt. Inspiriert von diesem Ort planen sie ihre Stadt der Zukunft: Visioncity. Um diese langfristig zu erbauen besiedeln sie das Umland und gründen die Kreisstadt Erfolgshausen am Fluss der guten Praktiken, der in einem idyllischen See mündet. Sie entwerfen für Erfolgshausen ein Wahrzeichen, entwickeln Stadtpläne und konzipieren die verschiedenen Stadtteile, die jeweils eine Besonderheit haben und sich gegenseitig ergänzen. Um die geplanten Baumaßnahmen zu steuern und Veränderungen im Umfeld frühzeitig zu erkennen, errichten sie an der Stadtgrenze den Observation Tower.

Haltung und Methode

„Hoch steht über aller Begeisterung, allem Enthusiasmus, selbst über allem Genie und Talent – die Gesinnung.“

Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense (1771 – 1833)

Wie bei jeder anderen Methode auch ist der effektive und effiziente Einsatz der Entdeckungsreise von der Haltung des Klienten- und Beratungssystems abhängig. Um die Methode kompetent und authentisch umzusetzen, sollte das Beratungssystem über fundierte Erfahrungen mit Strategieentwicklungsprozessen verfügen und Spaß haben an kreativen und dynamischen Gruppenprozessen. Im Gegenzug sollte das Klientensystem offen sein gegenüber analogen und neuen Methoden, eine verbindliche strategische Planung beabsichtigen und die notwendigen Ressourcen bereitstellen. Auch wenn die Entdeckungsreise eine gewisse Leichtigkeit vermittelt, handelt es sich um eine fundierte Strategieentwicklungsmethode und nicht um einen „Auf-gut-Glück“-Kreativitätsansatz. Klienten- und Beratungssystem sollten sich der Tragweite des Prozesses und der Ernsthaftigkeit der Ergebnisse bewusst sein und auch während des Prozesses eine Balance zwischen Planungsmotivation und Umsetzungsorientierung halten. 

Anwendung der Methode

„Zuerst sollte man herausfinden, was die anderen alles schon wissen,
und dann da weitermachen, wo sie aufgehört haben.“

Thomas Alvas Edison (1847-1931)

Vorbereitung der Landkarte: Die Landkarte für die Entdeckungsreise sollte vorab mit dem Klientensystem abgestimmt werden. Entsprechend der strategischen Herausforderungen der Organisation sollten die auf der Karte verzeichneten Orte angepasst werden, ohne aber den roten Faden der Strategieentwicklung aus dem Auge zu verlieren. Bei Unternehmen des öffentlichen Dienstes kann es sich z.B. anbieten, Piratevalley in Blockadenburg oder Verfahrenssumpf umzubenennen, um systemimmanente Blockaden aufzuspüren, die die Institution behindern und auf die sie keinen Einfluss hat. Auch sollten mit dem Klientensystem zentrale Kenngrößen abgestimmt werden, die im Workshop zu berücksichtigen sind. Diese können in graphisch aufbereiteter Form in die Landkarte integriert werden (u.a. in Form von Ortsschildern, Werbetafeln oder Bannern). Die abgestimmte Landkarte sollte in Farbe und großformatig als Poster (mindestens 118 x 146 cm) ausgedruckt werden, so dass die Ergebnisse der Entdeckungsreise auf der Landkarte dokumentiert werden können.

Räumliche Voraussetzungen: Der Workshop sollte an einem Ort stattfinden, der das Arbeiten in mindestens 4 unterschiedlichen Räumen (1. Raum: Kontinent Gegenwart, 2. Raum Insel der Erkenntnisse, 3. Raum: Insel der Werte, 4. Raum Kontinent Zukunft) erlaubt. Wenn möglich sollte für jede Reisestation ein anderer Raum genutzt werden. Es empfiehlt sich den Tagungsort vorab zu besichtigen und die einzelnen Räume sorgfältig auszuwählen (z.B. Terrasse für die Hafenstadt Weitblick, Tiefgarage für das Tal der Schwächen).

Durchführung:

Das Beratungssystem nimmt während des Workshops die Rolle der Explorations-leitung ein. Durch bildhafte und inspirierende Geschichten zu den einzelnen Reise-stationen und Wegstrecken führt es das Explorationsteam durch die Welt der zwei Kontinente. Am Ende der Besichtigung eines jeden Ortes werden die Eindrücke gesammelt, ausgewertet und auf dem Landkartenposter dokumentiert. Pausen sollten während des Workshops sehr gezielt eingesetzt werden. So empfiehlt sich eine längere Pause nach der Insel der Erkenntnisse (Mittagspause oder Ende des ersten Workshoptages). Die Gruppe sollte während der Reise nie zu einem bereits besichtigten Ort zurückkehren!

Abschluss: Die im Laufe des Workshops fortlaufend mit Reiseeindrücken kommentierte Landkarte eignet sich gut, um die Ergebnisse des Workshops den nicht beteiligten Mitarbeitenden vorzustellen und je nach Organisationskultur mit diesen weiterzuentwickeln. Hierfür kann die Karte im Anschluss an den Workshop graphisch überarbeitet und großformatig ausgedruckt oder als interaktive elektronische Karte umgesetzt werden.